Die Gabe
Es würde Ärger geben. Die Messe war vorüber und Pfarrer Bertram saß im Mittelschiff seiner Kirche und sann nach. Alles war wie immer verlaufen, und doch...
Er hatte eine Veränderung in der Atmosphäre gespürt. Oder bildete er sich das nur ein?
Wenn der Junge geplaudert hatte...
So lange schon war ihm das nicht mehr passiert. Ausgerechnet jetzt, kurz vor dem Ruhestand, mußte es ihn noch mal überkommen. Aber der Junge hatte ihn provoziert. Nach allen Regeln der Kunst provoziert.
Er war schließlich auch nur ein Mensch.
Die Kinder damals hatten nie etwas gesagt. Das war sicher. Was auch. Gewollt hatten sie es. Alle. Der Junge jetzt auch, aber bei dem Geschrei, das jetzt überall darum gemacht wurde, konnte man sich nicht mehr sicher sein.
Wenn der Junge was gesagt hatte, finge das Kesseltreiben an. Er war solch ein Narr gewesen, sich noch einmal auf so etwas einzulassen.
Nun, es galt abzuwarten. Sich nur keine Blöße zu geben. Vor allem, wenn es wirklich zu öffentlichen Anschuldigungen käme...
In diesem Augenblick wurde sein Gedankengang unterbrochen. Ein junger Mann stand zu seiner Rechten, schmal, blaß, vielleicht Anfang zwanzig. Etwas Bedrücktes lag in seinen Zügen, seiner Haltung. Als er sah, daß der Pfarrer ihn bemerkt hatte, begann er: „ Guten Tag, Herr Pfarrer. Ich hoffe, ich störe Sie nicht, aber ich brauche Ihre Hilfe. Ich möchte beichten.“
Pfarrer Bertram maß ihn mit kurzem Blick und wehrte ab: „ Beichtgelegenheit ist immer Dienstag und Samstag von 18 bis 19 Uhr.“
„ Das weiß ich, Herr Pfarrer, aber so lange kann ich nicht mehr warten. Kann ich nicht jetzt beichten?“
„ Es kann im Leben nicht immer so gehen, wie man möchte. Sie werden sich doch wohl noch zwei Tage gedulden können.“
„ Herr Pfarrer, bitte, es ist wirklich dringend.“
„ Ich habe Verpflichtungen, die auch dringend sind. Wenn Sie partout sofort beichten wollen, versuchen Sie es doch in einer anderen Pfarrei.“
Der junge Mann schaute ihn einen Moment lang still an, dann wandte er sich zum Gehen. Doch plötzlich, wie einer Eingebung folgend, holte er etwas aus seiner Jackentasche, drehte sich wieder zum Pfarrer und hielt diesem eine Pistole unter die Nase. „ Wir gehen jetzt beichten.“
Das Argument überzeugte. Ein Blick auf die Waffe, ein Blick in die Augen, Pfarrer Bertram winkte dem jungen Mann, ihm zu folgen.
Sie betraten den Beichtstuhl, jeder von seiner Seite.
Der direkten Bedrohung durch die Waffe entzogen begann Pfarrer Bertram in der langjährigen Routine seines Amtes mit der Begrüßung des Beichtenden. Da er keine Antwort erhielt, mahnte er: „ Der Beichtende hat sich jetzt zu bekreuzigen und zu sagen : im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, amen.“ Zögerlich wiederholte der junge Mann die offensichtlich ungewohnten Worte. Der Pfarrer fuhr fort: „ Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke Dir wahre Erkenntnis Deiner Sünden und Seiner Barmherzigkeit.“
Diesmal kam von der anderen Seite unaufgefordert ein tief geseufztes : Amen.
„ Ich höre“, ließ Pfarrer Bertram sich vernehmen. Auf die Aufzählung der möglichen Sünden verzichtete er – dieser junge Mann schien nur zu gut zu wissen, was er zu beichten hatte.
Und dieser begann: „ Herr Pfarrer, ich habe Menschenleben auf dem Gewissen. Viele Menschenleben.“
Ein Mörder also. Sah gar nicht so aus. Aber wem sah man seine dunklen Seiten schon an.
„ Ich höre.“
„ Ich muß ein bißchen ausholen, Herr Pfarrer, damit Sie besser verstehen können.
Als ich geboren wurde, starb meine Mutter bei der Geburt. Einen Vater hatte ich auch nicht, er war da schon tot. Meine Mutter hatte ihn vergiftet. Weil er sie immer geschlagen hatte.
Deswegen kam ich im Gefängnis zur Welt. Aber das habe ich erst vor zehn Jahren erfahren. Aufgewachsen bin ich bei meiner Großmutter. Wir hatten nicht viel Geld, aber sie hatte ein Häuschen auf dem Dorf und war tüchtig und anständig. Im Dorf zerriß man sich wegen meiner Eltern das Maul, aber irgendwie hat meine Großmutter es geschafft, daß ich bis zu meinem 13. Lebensjahr davon nichts mitbekam.
Obwohl, als ich fünf war, kam mal eine Nachbarin zu uns. Ein böses Klatschweib. Ich spielte draußen mit meinen Murmeln, da kam sie zu mir und fing an, was für ein armes Kind ich doch sei. Fing an von meinen Eltern zu reden, aber meine Oma wurde ganz böse mit ihr und wollte sie wegschicken. Die ging aber nicht, wollte ihr Gift unbedingt loswerden. Ich verstand gar nicht, was sie da erzählte und hab mit meinen Murmeln weitergespielt. Als Oma ihr mit der Polizei drohte, tat sie ganz entsetzt, machte einen Schritt zurück, trat dabei auf meine Murmeln, rutschte aus und fiel mit Schwung hintüber – mit dem Hinterkopf auf die Kante unserer Steintreppe. Sie war sofort tot.
Es machte uns nicht beliebter im Dorf, das können Sie sich vorstellen. Das nächste Unglück geschah, als ich dreizehn war. Ich sah zufällig wie der Sohn des Dorfwirts seinem Vater 500 Mark aus der Kasse stahl, und bevor ich mich davonschleichen konnte, hatte der Dieb mich bemerkt. Er schnappte sich ein Messer und drohte mich abzustechen. Ich rannte was ich konnte davon, er mit dem Messer hinter mir her. In meinem Leben bin ich noch nicht so gerannt. In Todesangst lief ich über den zugefrorenen Dorfweiher den kürzesten Weg nach Hause, er mir schon dicht auf den Fersen, war ja auch viel größer und älter als ich. Da hörte ich es krachen, ein Schrei, er war eingebrochen. Und sofort verschwunden. War direkt unters Eis geraten. Sie haben ihn nur noch tot geborgen.
Von da an haben die Leute im Dorf mich gemieden, und Oma hat mir dann alles von meinen Eltern erzählt und gemeint, daß wir wohl besser in die Stadt ziehen sollten.
Da habe ich dann die mittlere Reife gemacht und eine Lehre angefangen. Aber der Betrieb ging Konkurs und ich mußte mir was neues suchen. Die neue Lehrstelle habe ich dann selbst hingeschmissen. Der Chef hat nur rumgebrüllt, jeden fertiggemacht, und der Beruf gefiel mir auch nicht. Nur, irgendwas mußte ich ja doch machen. Aber was? Meine Oma meinte: „ Jeder Mensch hat eine besondere Gabe, die ihm der Herrgott mitgegeben hat. Du mußt nur hinschauen, dann merkst Du schon, was es ist. Wenn Dir etwas leicht fällt, was anderen schwer fällt, das ist dann Deine Gabe. Und dann schau, ob Du daraus einen Beruf machen kannst.“
Ich schaute auf mein Leben, aber mir kam nichts besonders vor. Außer Kochen vielleicht. Das konnte ich ganz gut. Ich hatte es von Oma gelernt, vor allem in den letzten zwei Jahren. Da wurde sie nämlich immer kranker und ich habe sie gepflegt. Als sie dann starb, hatte ich immer noch keinen Beruf erlernt. Ich überlegte hin und her und beschloß dann, einen Imbiß zu eröffnen. Ein bißchen Geld war noch von Omas Hausverkauf da, den Rest finanzierte ich über die Bank. Aber ich hatte wohl keine gute Lage für mein Geschäft, viel zu wenig Laufkundschaft. Bald konnte ich die Raten nicht mehr bezahlen. Ein Stammkunde, mit dem ich darüber sprach, kam mit einer Idee. Er ging ab und an zu Pokerspielen. Illegalen natürlich. Aber mit etwas Glück könnte ich da schnell ein paar Tausender machen. Ob ich mitkommen wollte. Ich ließ mich drauf ein – und verlor. Am Schluß stand ich mit zehntausend in der Kreide. Die Zocker wollten ihr Geld, ich hatte aber doch keins. Da machten sie mir einen Vorschlag. Ich könnte meine Schulden abarbeiten. Es gäbe da jemanden, der sie übel hintergangen hätte. Der müsste weg. Ob ich das erledigen könnte. Um Gottes Willen, sagte ich, ich kann doch keinen Menschen töten. Und dann haben sie mir kurzerhand gesagt, entweder er oder ich. Wenn ich nicht zahlen könnte, hätte ich die Sache zu erledigen, sie wären kein Wohlfahrtsunternehmen, ansonsten würden sie mich gleich hier erledigen. Klare Regeln, sonst würde jeder glauben, er könne den Verein verarschen. Verein. So nannten sie sich.
Ich hatte keine Wahl, ich stimmte zu. Und bekam ein paar Tage später eine Waffe und Namen und Anschrift des Opfers.
Was hätten Sie getan, Herr Pfarrer, wenn man Sie vor die Wahl gestellt hätte, jemanden umzubringen oder selber draufzugehen? Aber ich schwör‘s Ihnen, ich hatte nicht vor, dem Mann was zu tun. Ich dachte, ich geh hin, rede mit ihm, sag ihm was Sache ist. Und dann schauen wir, wie wir da zusammen vielleicht wieder rauskommen können.
Ich gehe also hin, um ihm zu sagen, in welcher Patsche wir stecken. Sag, daß ich vom Verein komme, da rennt der Mann los, hört überhaupt nicht, was ich ihm nachrufe, ich also hinter ihm her, damit ich es ihm erklären kann, er nur immer schneller, dreht sich kurz um, um nach mir zu schauen, sprintet dabei über die Straße und läuft voll in einen LKW. Es war ein Schock. Der Fahrer und ich haben uns sofort um ihn gekümmert, den Notarzt gerufen, ich hab dem Mann die ganze Zeit die Hand gehalten und Blut hab ich auch noch gespendet, aber da war nichts mehr zu machen. Er starb noch im Krankenwagen.
Vom Verein bekam ich ein Lob. Gute Arbeit. Und zweitausend weniger Schulden. Da wußte ich, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis der nächste Auftrag kommen würde. Ich machte meinen Imbiß zu. Ich wollte irgendwo untertauchen, aber ich hatte keine Ahnung, wie und wo. Und ich war nicht schnell genug. Der nächste Auftrag kam.
Ich sollte einen Verräter beseitigen.
Diesmal wollte ich vorsichtiger sein. Natürlich wollte ich ihn nicht umbringen. Der Mann lebte in einem Hochhaus, oberstes Stockwerk. Ich sah zu, daß ich mit ihm unten in den Fahrstuhl einstieg und wir zusammen hochfuhren. Dann drückte ich den Nothalt und dachte, da kann er mir wenigstens nicht vor ein Auto laufen und wir können ungestört reden. Ja von wegen. Als ich den Aufzug anhalte, scheint ihm was zu dämmern. Kreidebleich wird er, und bevor ich überhaupt noch mit ihm reden kann, schnappt er nach Luft und fällt um.
Herzinfarkt, hat der Notarzt gesagt.
Der Verein war sehr zufrieden. Und ich bekam, weil ich so brauchbar war, gleich den dritten Auftrag.
Um es kurz zu machen, der nächste sprang in Panik aus dem Fenster. Es war zwar nur der erste Stock, aber er fiel so unglücklich, daß er sich das Genick brach. Unfall also.
Nummer vier wich während meiner Erklärungsversuche rückwärts vor mir zurück, stolperte dabei und fiel mit dem Hinterkopf auf die Ecke der gläsernen Tischplatte. Schädelbruch mit Todesfolge.
In kürzester Zeit wurde mein Ruf legendär. Die Raffinesse, mit der ich ans Werk ging, alles nach Unfall aussehen zu lassen, brachte mir Achtung von höchster Stelle ein.
Der Vereinsleiter wollte mich sehen. Und ich begriff, da würde ich nie mehr rauskommen. Untertauchen? Lächerlich. Sie würden mich finden, überall.
Ich ging also zum Leiter. Der sah aus wie so‘n Bonze. Dicker Schreibtisch, echte Bilder, schwere Teppiche, alles vom Feinsten. Läßt mich der erst mal stehen und streut sich ein weißes Pulver auf seine Schreibtischplatte, schiebt sie zu zwei Linien zusammen und holt ein dünnes, langes Goldröhrchen aus der Schublade. Richtig protzig. Setzt das zwischen Nase und Pulver und meint so nebenher zu mir, daß ich das Fenster mal zumachen soll. Ich geh seitlich um den Schreibtisch herum, liegt da ein noch dickerer Teppich, ich stolpere über die Kante und falle auf den Leiter. Dabei rammt sich das Goldrohr durch die Nase bis in sein Gehirn. Tot.
Ich nur noch raus, sag dem Bodyguard vor der Tür, ab jetzt hätten sie die Finger von mir zu lassen und gehe nach Hause. Eine Woche habe ich auf das Rollkommando gewartet, aber nichts ist passiert. Dann habe ich angefangen, meine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, mit der Bank eine vorläufige Regelung getroffen, und lange nachgedacht. Das alles ist jetzt acht Wochen her. Sie lassen mich in Ruhe. Warum auch immer. Aber, Herr Pfarrer, wie soll es nur weitergehen mit meinem Leben? Wohin ich komme, scheine ich den Tod zu bringen. Meine Mutter, der Dorfjunge, all die Männer, die ich töten sollte. Wie soll ich damit leben? Mit dieser entsetzlichen Last, diesem Fluch.“
„ Junger Mann“, dröhnte da Pfarrer Bertram, „ junger Mann, das sehen Sie falsch. Das ist kein Fluch. Das ist Ihre Gabe! Werden Sie Bestatter, Mann! Ihnen fallen die Leichen ja nur so zu! Sie brauchen sie nur noch einzusammeln! Außerdem wüßte ich nicht, von welcher Sünde ich Sie lossprechen sollte – Sie haben doch gar keine begangen.“
„ Ist das Ihr Ernst, Herr Pfarrer?“
„ Ja aber sicher doch, Sie haben doch nur das Beste gewollt.“
„ Ach Herr Pfarrer, sehen Sie, da hat meine Oma immer gesagt: Theodor, Du....“
„ Moment, Theodor sagen Sie, Sie heißen Theodor? Theodor – die Gottesgabe?!“ Ein Lachen überkam Pfarrer Bertram, unwiderstehlich, übermächtig. Er lachte und lachte und lachte noch, als durch die Erschütterung des Zwerchfells das Aneurysma in seinem Bauch platzte und er binnen Sekunden aller Sorgen ledig ward.
Einmal im Jahr besucht der Inhaber des angesehensten Bestattungsinstitutes der Stadt das Grab eines Pfarrers und legt dort ein wunderschönes Blumenbouquet ab. Allen Gerüchten, die sich um den Verstorbenen hartnäckig halten, zum Trotz.
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Pavalache, 2015
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