LESEPROBEN - direkt unten, aus der Wunderblume (Lisa), und rechts, aus dem Funkenflug (Die Gabe)

 

Exposé zu Wunderblume

 

Wunderblume stellt einen Erzählband dar, der in kurzen Geschichten die Landschaften des Lebens beschreibt.

Ohne zu psychologisieren wird Einsicht in die Hintergründe von Handlungen und Geschehnissen möglich.

 

Lisa erzählt von einer, auch von sich selbst, ungeliebten Frau, die nach tiefster Demütigung eine Grenze setzt.

 

Der Fluß beschreibt die Seelennot der Ungeborgenheit im Leben im Kontrast zu dem Gefühl der Selbstverständlichkeit zu sein.

 

In Das Haus wird erzählt wie eine ortsgebundene Qualität des Seins sich in den Leben der wechselnden Bewohner zeigt.

 

Dialog ist ein amüsantes Mißverständnis.

 

Der Sprung schildert eine Schwesternrivalität bis zum bitteren Ende

 

Charlotte steht stellvertretend für das Leben von Außenseitern.

 

Manchmal ist eine sehr persönliche Rückschau auf ein Mutter-Tochter-Verhältnis.

 

Wunderblume schildert die Ehe zweier unvereinbarer Menschen.

 

Der erste Kuß macht die Unnachholbarkeit verpaßten Lebens deutlich.

 

Kurzfassung ist dazu analog die Kurzfassung.

 

Am Fluß erzählt von einer Frau, die sich vom Leben zurückzieht und durch eine ungewollte Begegnung wieder Mut faßt.

 

Noica setzt sich mit der Bedeutung des letzten Wortes eines sterbenden Philosophen auseinander.

 

 

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Lisa

 

Gravitätisch stieg sie von dem Mann.

Sie war fett. Richtig fett. Ihr Leben lang.

Und jetzt, mit neunundvierzig, hatte sie den besten Sex ihres Lebens.

Verheiratet war sie nicht mehr. Dreiundzwanzig Jahre hatte Jörn auf ihr gelastet. Seelisch, finanziell.

Als sie zusammenkamen, hatte sie gerade eine traumatische Erfahrung hinter sich. Ihr Freund hatte sie verlassen. Natürlich für eine Andere. Eine Dünne.

Es tat weh.

Hinzu kam, sie hatte ihn aufgenommen, hatte ihm seine Ausbildung finanziert, hatte ihn durchgefüttert. Und sein schadhaftes Gebiß durchüberkronen lassen. Nicht billig. Nach Tausch der dicken Brille mit Kontaktlinsen war die Metamorphose abgeschlossen. Er spreizte die Flügel und war weg.

 

In dieser Zeit lernte sie Jörn kennen. Er bemühte sich rührend um sie. Dabei hatte sie sich vor Kummer noch einmal gewaltig mehr in die Breite gefressen. Auch Jörn war ein häßliches Entlein - im Unterschied zu seinem Vorgänger aber ohne Anlage zum Schwan. Außerdem hütete sie sich, seine Zähne sanieren zu lassen.

Jörn war unsicher, komplexbeladen, trat stets am falschen Platz naßforsch auf und war unfähig, sich durchzusetzen. Jährlich wechselte er den Arbeitsplatz.

Durch die Arbeit hatten sie sich kennengelernt; sie waren beide in der Buchhaltung.

Liebe war es ihrerseits nicht, und im Rückblick bezweifelte sie, daß es das bei ihm jemals gewesen sein konnte. Es war wohl mehr ein Zusammenschluß aus Resignation und Verängstigung.

Aber sie gewöhnte sich an ihn, und außer, daß er so oft die Arbeit wechselte oder auch zunehmend verlor, mit immer längeren Phasen der Arbeitslosigkeit, war sie nicht unglücklich. Eher betäubt.

Jörn schaute keine andere Frau an. Er war häuslich, mochte nur selten etwas mit ihr unternehmen, lehnte jeden Kontakt zu ihren Freundinnen ab.

Er wollte sie für sich.

Anfangs hatte ihr das geschmeichelt, später kam sie dahinter, daß er um jeden Preis verhindern wollte, daß ein Gefälle zwischen ihnen entstand. Daß sie wuchs, sich entwickelte, während er verharrte.

Jeden Versuch von ihr abzunehmen sabotierte er, fühlte sich sicherer und zufriedener, je fetter sie war.

Immer wieder nahm sie Anlauf, den Kreis zu durchbrechen. Auch für ihn.

Ergebnislos.

Im Vergehen der Jahre angefüllt mit Arbeit und der oft alleinigen Verantwortung für die materielle Existenz ließ ihre Kraft nach, sie resignierte.

Einzige wirkliche Freude war ihr Hund, den sie auch mit in die Arbeit nehmen konnte. Er war Kindersatz. Jörn hatte kein Kind gewollt, und sie hatte die finanzielle Abhängigkeit von ihm gescheut im Falle einer Mutterschaft.

Als der Hund starb, wurde sie krank.

 

Ihr Körper verweigerte sich ihr. Nach langem Suchen fand sie einen Arzt und Heilpraktiker, der nicht alles auf ihr Körpergewicht schob, sondern in der Seele ansetzte, sie nach ihrer Kindheit befragte, nach ihrem Leben. Er war der Erste, der nicht lachte, als sie erzählte, daß sie als Kind immer zum Ballett hatte gehen wollen. Der Erste, der sie unter dem Gebirge aus Fett wahrnahm. Diesem Menschen öffnete sie sich, öffnete die Schleusen. Überwältigt von der Sintflut ihrer Emotionen weinte sie sich leer. Über Monate.

 

Dann begann sie ihr Leben neu zu ordnen. Sie nahm ab, zog aus, reichte die Scheidung ein.

Und dann traf sie Ben. Eigentlich Bernhard. Nach Männern hatte sich sich schon eine ganze Weile umgesehen, fühlte sich aber trotz Gewichtsverlust immer noch viel zu unattraktiv, um an eine Chance zu glauben.

Ben sprach sie im Supermarkt an. Was sie für eine schöne Frau wäre.

Zauberworte.

Nie gehörte, nie erhoffte.

Sie reagierte wie ein Schulmädchen. Er lud sie auf einen Kaffee ein. Er war Rentner, 61 Jahre alt, klein und zierlich, gebräunt und selbstbewußt. Außerdem belesen und charmant.Und schaute sie an mit Augen eines Verhungernden, den man vor eine übervolle Tafel lädt. Ob er sie wiedersehen dürfe. Ihre Adresse, Telefonnnummer.

Nein, er selber habe momentan kein Telefon, gerade im Umzug. Aber morgen Abend? Er käme sie abholen.

Sie war im Rausch. Später die Angst, ob er auch wirklich käme.

Er kam. Ein Strauß vollerblühter Rosen ( "so wie Sie..." ), Zuhören, Lachen, Komplimente.

Aus Blicken wurden Zärtlichkeiten, kleine erst, dann deutliche. Er wollte mit ihr schlafen.

Sie zögerte. Schämte sich ihres Körpers, der nie geliebt worden war, nicht von Männern, nicht von ihr. Jörn hatte selten Sex gewollt; und dann lieblos, verquält, hastig.

Behutsam nahm Ben ihr die Scheu, als kenne er ihre tiefsten Abgründe seit Anbeginn. War hingerissen, als Stück um Stück der Kleidung fiel, die gewaltigen Massen von Bauch, Brust, Po und Schenkeln sichtbar wurden.

Streichelte, küßte, erforschte, war Kenner und Könner. Irgendwann ließ sie los, gab jede Kontrolle auf. Nie, nie hatte sie dergleichen erlebt. Nie auch nur darauf gehofft. Dieser kleine fremde Mann spielte auf dem Instrument ihrer Sinne als Meister.

Und das jedes Mal.

Sie verfiel ihm völlig, war kaum noch Herrin ihres Triebs, wenn er auch nur anrief.

Nach Wochen bestand sie darauf, auch einmal zu ihm zu kommen, seine Wohnung kennenzulernen. Er redete sich mit Umzugs- und Renovierungssituation heraus, lud sie aber in sein Ferienhäuschen am Waldrand ein. Es war ihr recht. Auch akzeptierte sie, daß er offenbar noch immer keinen Telefonanschluß besaß und sie stets aus öffentlichen Fernsprechzellen anrief. Wollte sie ihn sprechen, mußte sie auf seinen Anruf warten.

Und sie wartete. Immer länger. Die Abstände zwischen ihren Treffen wurden größer. Er meldete sich seltener, doch die Leidenschaft beim Sex blieb unvermindert.

Sie hinterfragte, bekam aber keine zufriedenstellende Antwort.

Sie wurde mißtrauisch.

Und statt zum Sex kam es zum Streit. Immer häufiger.

Sie wollte sich mit der Rolle der Wartenden nicht mehr zufriedengeben.

Da gab er nach, zögerlich erst, dann, als sei er schließlich in seinem guten Recht, sehr bestimmt. Seine Telefonnummer und Anschrift gebe er nicht heraus, weil er seit Jahren schon leidenschaftliche Affairen mit Frauen pflege, mit üppigen Frauen. Das brauche er wie die Luft zum Atmen. Diese elementare Weiblichkeit. Und er habe nicht vor, seinen Nachbarn ein Schauspiel zu bieten. Leuten, die nichts anderes zu tun hätten, als sein Liebesleben auszuspionieren.

Nein danke.

Und warum sie sich immer seltener träfen?

Er habe eine andere Frau kennengelernt und sei verunsichert, sozusagen zwischen den Stühlen.

Sie erstarrte.

Nein, sie bedeute ihm unglaublich viel. Er brauche nur etwas Abstand, um sich über sich selbst klar zu werden.

Sie wollte ihn nicht verlieren. Ihn nicht, den Rausch im Beischlaf nicht. Sie tolerierte.

Und dann rief er nach einer sehr langen Pause an und bat sie, in das Ferienhaus zu kommen. Empfing sie mit einem leidenschaftlichen Kuß. Und teilte ihr mit, daß ihm die Andere die Pistole auf die Brust gesetzt habe. Er müsse sich entscheiden. Sich von einer von beiden trennen.

Er habe sich für die Andere entschieden.

Sprachlos versteinerte sie.

Als er sie streichelte, schob sie die Hand weg. "Zeig mir ein Bild von ihr, ich will sehen wie sie aussieht."

Er fingerte an seiner Brieftasche, reichte ihr ein Foto.

Die Frau war unsäglich fett. Fetter als Lisa in ihren schlimmsten Zeiten.

Unfaßbar. Absurd.

Sie wurde weggestellt für ein Gebirge aus Fett.

Nie, nie genügte sie.

Er verstaute das Foto wieder und meinte, daß er sich freue, wie sie es aufnehme. Kein Toben, kein Geschrei. Wie oft er das schon hatte erleben müssen.

Ob man sozusagen zum Abschied nicht noch mal ...

Er streichelte sie wieder, küßte Nacken und Hals, zog sie zum Bett. Zog sie wie so oft genußvoll aus. Als er sich hinlegte, damit sie zu ihm kommen solle, setzte sie sich über ihn. Dann rutschte sie höher. Noch höher. Senkte sich schwer auf ihn. Er stöhnte auf: " Nicht so hoch, du mußt tiefer gehen, nicht auf den Bauch." Sie hob das Gesäß, schob sich höher. Senkte sich jetzt auf seine Brust. " Was tust du da, Ich kann ja kaum noch atmen. Geh runter, ich krieg keine Luft!"

Fester und fester verband sie sich dem fleischernen Sattel.

Verzweifelt versuchte er, sie von sich zu stoßen. Keuchte, rang nach Atem, konnte schon nicht mehr sprechen.

Sie saß. Unerschütterbar.

Legte den Kopf in den Nacken, gewahrte das zappelnde Männlein unter sich nicht mehr, spürte Macht und Kraft, war eins mit Himmel und Erde.

War Göttin.

 

Kehrte erst in die Stille des Zimmers zurück, als ihr kalt wurde.

Schaute auf den leblosen Körper des Mannes.

 

Eine große Ruhe war in ihr.

 

Landsberg, 7.8.2012

D.P.


 

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