Der Ball
Ich habe ihn endlich bekommen!
Es war ein
"originaler" Fußball, aus dem Westen, Marke Artex, aus echtem Leder, mit schwarz-weißen Sechsecken, gekauft und verschickt von meiner Mutter aus Westdeutschland, die schon seit 1977 dort
lebte.
Mit meinen 10-11 Jahren interessierte mich das Fußballspiel nicht wirklich, im
Gegensatz zu den meisten Jungs, die leidenschaftliche Spieler oder Zuschauer waren - aber diesen einen Ball hatte ich mir sehr gewünscht.
Fußball hatte ich immer schon unterdurchschnittlich gespielt, hatte keine große Lust zu laufen, besaß keine Technik, das Dribbling gelang mir
nicht. Somit landete ich meistens in der Verteidigung oder auch im Tor, gesetzt den Fall, ich wurde in die Mannschaft reingenommen und blieb nicht draußen auf der Bank, als
Reserve.
Heute, wenn ich es mir recht überlege, denke ich, daß dies taktisch ein sehr strittiger Kompromiss war, die schwachen Spieler in die Defensive oder sogar ins Tor
zu setzen!...aber wohin sonst mit ihnen?!
Unsere besten Fußballer bzw. die Sportlehrer,
welche die Mannschaften zusammen setzten, mussten diesbezüglich ein großes Dilemma gehabt haben...
Nun, dort wo ich damals wohnte, in einem Wohnblock des Bahnhofsviertels von
Brasov, gab es wenig Raum für Ballspiele - zu viele parkende Autos, recht enge Straßen, so daß ich mit meinem nagelneuen Ball lieber zu meiner Schule ging. Es war die Grundschule Nr. 19, recht
nah gelegen, 5-10 Minuten zu Fuß.
Es gab zwei Spielplätze an den zwei Hauptseiten des
Schulgebäudes, einen größeren und einen kleineren, beide mit zwei Eisentoren, ohne Netze. Der ganze Schulhof war asphaltiert, was mir in diesem Fall nicht gerade gefiel, denn ich wußte, daß somit
der Glanz des neuen Balles rasch weg wäre und überhaupt das Leder darunter leiden würde.
Ich selbst bevorzugte das kleinere Spielfeld, mußte dort nicht zu viel laufen, die Tore hatten auch noch Basketballkörbe auf dem Rahmen und das eine Tor hatte dahinter eine Sandgrube,
in der die Bälle oft landeten und liegen blieben. Noch dazu, auf jener Gebäudeseite konnte man sehr gut gegen die Wand spielen, Fußball oder Tennis, - es war dort also intimer und
praktischer.
An jenem Tag war kaum jemand da. Um so besser. Ich fing an, gegen die Wand zu spielen, übte Schüsse mit dem Fußinneren, mit dem Außenrist, mit und ohne Drall,
aus diversen Positionen und Abständen, inklusive das Auffangen der zurück prallenden Bälle, wie ein Torwart.
Das Spiel, das Training gegen die Wand ist schon toll. Man hat beispielsweise den großen Vorteil, die Bälle sehr gut kontrollieren und fangen zu können,
Überraschungen passieren selten.
Nach nicht zu langer Zeit stießen zwei Jungen zu mir,
ungefähr meines Alters und fragten mich, ob wir nicht zusammen spielen wollten. Eigentlich hatte ich keine Lust mit anderen zu spielen, und noch weniger mit Fremden, ich wollte den Ball für mich
haben, aber ich lehnte es doch nicht ab. Ich traute mich nicht, es abzulehnen.
Ich weiß
nicht, wie lange ich mit ihnen gespielt habe, ich schätze eher kurz, erinnere mich aber wie einer der beiden, der dunkelhäutige mit dem wilden Haar, möglicherweise ein Zigeuner, mich plötzlich am
Hals packte, mir den Kopf einklemmte und nach unten drückte und mich im Kreis drehte. Gleichzeitig schnappte sich sein Kumpel den Ball und rannte damit weg. Da ließ der Zigeunerkerl mich los und
flitzte ebenfalls davon.
Ich weiß nicht mehr, wie ich reagiert habe, - war überrascht,
entmutigt, - ich glaube, ich bin ihnen nachgelaufen aber nur kurz, - sie waren zu schnell und schon zu weit. Sie verschwanden irgendwo zwischen den Wohnblocks.
Traurig, empört und erniedrigt ging ich alleine heim, ohne den Artex, - wahrscheinlich habe ich auch
geweint.
Zuhause habe ich über das ganze Malheur dem Oioio erzählt, wie ich ihn nannte - eigentlich Ion, mein Großonkel. Bei ihm und seiner Frau Ilse wuchs ich auf. Er
arbeitete 2-3 Nachmittage in der Administration der Wohnblöcke in unserem Viertel und hat schon in den nächsten Tagen versucht, die Diebe irgendwie ausfindig zu machen, hat links und rechts
nachgefragt, aber wie sollte er sie kriegen?! - wir hatten ja kaum Indizien. Ein paar Wochen später haben wir, eher zufällig, den möglichen Namen des Dunkelhäutigen erfahren, der angeblich eine
weitere Sauerei begangen hatte, - es führte aber zu nichts. Die Sache verlief im Sand.
Und, wenn ich es mir recht überlege, war es mehr als ein Diebstahl, eigentlich
war es ein Überfall. Und eine Feigheit: zwei gegen einen.
Es mußten sehr viele Jahre vergehen, um die 25-30, eine Zeitspanne in der ich sogar das Land gewechselt hatte, zum
Ursprungsland meines ersten wahren Balles, Deutschland - bis ich aufgehört habe, an eine mögliche Rache oder Revanche zu denken. Für den natürlich völlig unwahrscheinlichen Fall, den Dieb zu
treffen und wiederzuerkennen.
Eigentlich weiß ich noch heute nicht genau, ob ich dem
kleinen Zigeuner wirklich verziehen habe, oder aber ob das Vergehen der Zeit die Dinge und Gefühle nur verschwimmen ließ.
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Sehr spät,
mit 42 Jahren, in 2011, war ich zusammen mit meinem Sohn erstmalig bei einem Fußballspiel, live - ein Derby Augsburg vs. München, zweite Liga.
Viel zu viele Leute beisammen, Lärm, Krach, Streß - auch für meinen Sohn. Ich wußte auch vorher schon: ich mag die
Menschenmassen, die Kollektive nicht. Wollte aber diese Erfahrung machen. Nun habe ich sie zufrieden abgehakt.
Immerhin, wir haben ein Tor gesehen, das einzige, in der
zweiten Hälfte - ich habe dabei wahrgenommen, wie leicht wir den entscheidenden Schuß hätten verpassen können, denn live gibt es keine Wiederholung, - es ist wie im echten Leben, nichts kann man
wirklich wiederholen. Und wir hatten Glück mit dem Tor, denn wir hatten schon in der Pause weggehen wollen; uns haben aber der Duft der Pommes Frites und Würste zurück gehalten, die dort verkauft
wurden, und die Tatsache, daß wir davon abhängig waren, zusammen mit meinem Arbeitskollegen und seiner Frau zurückzufahren. Der Matchbesuch war nämlich auf die Initiative meines Kollegen
erfolgt.
Ab jetzt bleiben wir erst recht brav daheim, bequem, schauen und konsumieren
Fußball im Fernsehen, auf dem großen Bildschirm. Oft "live" heißt es, mit Zeitlupen aus allen möglichen Winkeln, begleitet von Kommentaren, und in der Pause bzw. am Ende des Spiels wird alles
peinlichst analysiert und professionell wiedergekäut.
Das heißt eigentlich bin ich gar
nicht brav, oft genug packt mich das Spiel, ich kommentiere dann zu laut, gaaanz fachmännisch und treffsicher im Urteil und irritiere damit nicht selten meinen Sohn. Aber da muß er durch, er hat
mich schließlich mit der Fußballmikrobe infiziert...
Und nächstes Jahr ist die WM, was für
ein Wahnsinn, welche Aufregung, was für ein Zeitverlust. Ich weiß aber jetzt schon, daß wir uns nicht wenige Spiele anschauen werden.
Doch manchmal spielen wir zwei tatsächlich
Fußball, leider zu selten, oft ist die Trägheit zu groß. Wir gehen dann raus auf die Seitenstraße, unterteilen den Asphalt mit Kreide in Felder und spielen dann Fußballtennis.
Nie zuvor habe ich so gut und gerne Fußball gespielt!
Ich
erinnere mich noch, wie wir als Kinder manchmal in sehr kleinen Teams Fußball spielten, 2 oder maximal 3 Jungen, wobei einer davon "Stürmertorwart" war... also überall hin laufen durfte, nicht an
sein Rechteck gebunden war, - was für eine Freiheit!
Torwart zu sein, war meistens so etwas
wie eine Strafe, - denn jeder wollte möglichst oft und nah am Ball sein, und diesen kicken.
Und als wir in größeren Teams spielten, auf dem Asphalt der Grundschule Nr. 19, war das Standardbild, jenes einer chaotischen Kindermenge, alle um den Ball herum wimmelnd - das sagte
mir irgendwann mal Onkel Ion, der dort des öfteren vorbei ging und unser Spiel gerne und amüsiert betrachtete.
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Ich sehe
mich um im Hof und in der Garage, es haben sich nicht weniger als SECHS Fußbälle angesammelt, zwei Basketbälle, ein Volleyball plus noch ein paar kleinere Bälle, obwohl wir eigentlich recht
selten Ball im Garten spielen. Dazu haben wir noch ein Dutzend im Haus, noch kleinere, diese verwenden wir viel öfter, auf dem blauen Tisch, mitten im Garten, wo wir sie so oft "schneiden" und
ihnen in verschiedene Richtungen Effets geben, sie hin und her übers Netz schlagen: ping-pong.
Eigenartige Bällchen - in meiner frühen Kindheit waren sie schon "made in China" und hatten in der Mitte eine sichtbare Schweißnaht, heute aber ist jene Naht, weiß der Teufel wie!, nach
innen verlegt, so daß die Oberfläche des Balls perfekt glatt ist. Wenn man auf den Ball tritt, oder wenn man ihn zerdrückt, stinkt das Plastik, ein unangenehmer und aggressiver Geruch -
wahrscheinlich ist es die Rache des Balls für den Verrat am Geheimnis der Innennaht. Oder für die Zerstörung der runden Perfektion.
Die ganze Wahrheit ist, daß wir noch andere Bälle im Hause haben, 15 an der Zahl. Sie sind etwas kleiner und schauen anders aus: sind viel härter (ohne
Luft), nummeriert und bunt gefärbt, in volle und halbe - also klar markiert, differenziert, individualisiert, könnte man sagen. Eigentlich sind es gar keine Bälle mehr, sondern Kugeln -
Billiardkugeln, natürlich. Kugeln, die ganz anders geschlagen werden, in einem anderen Spiel mit einem anderen Raum, anders geteilt und gefärbt, mit anderen Regeln, Zielen und Techniken. Ein
anderes Spiel mit seiner Faszination und anderer Bedeutung.
Oder es ist vielleicht doch
lediglich eine andere Spielart, eine der ganz vielen Formen desselben großen Spiels des Lebens, des Schicksals, in einem anderen Arrangement.
Wie auch
immer, heute sind die Fußbälle nicht mehr aus echtem Leder, sondern aus Plastik - hatte ich zuerst nostalgisch und gerne glauben wollen, - doch ist dies nicht wahr. Es gibt sie aus verschiedenen
Materialien, Leder, Kunststoffen, gemischt, die Oberflächen aus Fünfecken, oder Sechsecken, oder gemischt aus beiden, oder auch nur aus diversen rundlichen Streifen
zusammengenäht.
Und doch sind sie nicht mehr "original", wie damals, auch nicht mehr aus
dem Westen, umsomehr, daß es, wie ich im Internet sehe, Artex, die Marke des Balles meiner Kindheit gar nicht mehr gibt.
Zuletzt - an einem Sonntag im Mai habe ich die
inflationäre Zahl der Bälle etwas reduziert, ich habe sie alle aufgepumpt und geschaut, welche Luft verlieren. Die Undichten wurden dann selektiert und mit einem spitzen Küchenmesser
erstochen.
Es war zum Osternfest der Orthodoxen, es hat sich so
ergeben.
Radu Pavalache - Mai 2013, Landsberg am Lech
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Pavalache, 2015
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